Was bedeutet Selbsthilfe?
Die ausführliche Langfassung des Textes zur Selbsthilfe finden Sie hier verlinkt.
Übergeordneter Leitsatz
Selbsthilfearbeit orientiert sich nicht nur am eigenen Kind/der eigenen Person, sondern am Thema/der Personengruppe insgesamt. Nur so können grundlegende Veränderungen erreicht werden. Über die Breite des Zugangs verbessern sich die Rahmenbedingungen für alle Betroffenen/Beteiligten im System, das kommt wiederum dem Kind/der eigenen Person zugute.
Selbsthilfe und Ressourcen
- Die Beteiligung an Selbsthilfe/Selbsthilfegruppen benötigt Zeit und Energie, ergänzend dann nicht selten auch finanzielle Ressourcen (z.B. für Fortbildungen oder um sich Zeitfenster ermöglichen zu können)
- Herausforderung: Wie bekommt man Support/Selbsthilfe in Familiensysteme/zu Personen, die an der Belastungsgrenze stehen oder diese bereits überschritten haben? Nicht selten wird hier jede Form der Unterstützung als Eindringen oder zusätzlicher Stress empfunden. An Selbsthilfe ist nicht zu denken. Hier können verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten Räume und Zeiten sowie neue Perspektiven für alle Beteiligten ermöglichen: Verwandte/Bekannte, Tagesgruppen, Familienunterstützende Dienste, Alltags/Freizeitassistenz usw.
Selbsthilfe / Selbsthilfegruppe
Wie im Leitsatz beschrieben: Selbsthilfe entsteht und bezieht sich zunächst auf die eigene Person/die Familie/das direkte Umfeld. Im Zusammenschluss ermöglichen Selbsthilfegruppen einen breiteren Austausch von Menschen zu einem bestimmten Thema, zumeist im Kontext Krankheit, Behinderung, Krise und/oder Belastung. Stärke und Energie entstehen über ein Gemeinschaftsgefühl/das gemeinsame Thema.
Kernmerkmale sind i.d.R.
- Ehrenamtliche Tätigkeit (die ab einer entsprechenden Größe durch bezahlte Mitarbeiter:innen unterstützt wird)
- Austausch und Unterstützung auf lokaler und regionaler Ebene (ggf. vernetzt mit Landes und Dachverbänden) (Onlinetreffen und weitere Formate erleichtern die Erweiterung des Radius, siehe Formate)
- Öffentlichkeits und Aufklärungsarbeit
Selbsthilfe und Autismus
autismus Deutschland e.V.:
1970 gegründet von Eltern (damals ausschließlich mit Kindern mit frühkindlichem Autismus, das Asperger-Syndrom gab es als Diagnose noch nicht), die keine Diagnose-, Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten vorfanden. Die Themen waren vielfältig und entwickelten sich über die Jahre zunehmend über die Lebensspanne: Therapie, Schule, Ausbildung, Arbeit, Wohnen und vieles mehr. Bundesweit gründeten sich Regionalverbände (und später Landesverbände) mit dem Dachverband in Hamburg. Aus den Regionalverbänden heraus gründeten sich Initiativen, Therapiezentren, Wohneinrichtungen und weitere Angebote wurden geschaffen und vernetzt.
Während vieles erreicht wurde, sind diese Selbsthilfegruppen/Verbandsstrukturen bis heute hoch relevant, um das Erreichte zu verstetigen, weiterzuentwickeln, neue Herausforderungen von der Basis zu bearbeiten und Einfluss auf rechtliche Entwicklungen zu nehmen. Sprechen Sie dazu gerne einen Regionalverband in Ihrer Umgebung an. Jedes Mitglied stärkt die Lobby.
Weitere Selbsthilfestrukturen im Kontext Autismus:
Mit der Zeit gründeten sich vor allem regional weitere Selbsthilfestrukturen und Initiativen.
Ab den 1990er Jahren kam die Diagnose Asperger-Syndrom dazu und erweiterte die Angebote und Themen im Bereich der Autismus-Selbsthilfe[1]. Erste Gruppen von Selbst-Betroffen gründeten sich (z.B. Aspies e.V. und diverse weitere, vor allem lokale Gruppen von Eltern und/oder Betroffenen).
Hinzu kam die Beteiligung von Fachpersonen in unterschiedlichen Rollen. Nicht selten gibt es Doppelrollen, also Eltern oder Autist:innen, die sich über Ihre Rolle als Expert:innen in eigener Sache hinaus fachlich im Thema Autismus spezialisiert haben[2].
Formate:
Klassische Treffen von Selbsthilfegruppen waren und sind lokal, in Präsenz. Hinzu kommt Austausch über Rundbriefe, Newsletter, Zeitungen, Bücher und weitere Publikationsformen. Mit Beginn des Internets erweiterten Foren die Möglichkeit des Austausches und bieten die Möglichkeit einer anonymen Beteiligung[3]. Heute bieten Videotreffen einen niederschwelligen Zugang zu Austausch und Selbsthilfegruppen und erleichtern den Zugang für Autist:innen und Eltern/Angehörige erheblich. Ein Beispiel sind hier unsere Online-Elternkurse.
Sowohl Foren als auch Videomeetings haben den Radius des Austausches in Selbsthilfestrukturen stark erweitert (bis hin zu einer internationalen Vernetzung). Dies vergrößert auf der einen Seite die Vielfalt des inhaltlichen Diskurses, kann aber auch dazu führen, dass der Fokus auf das lokale Angebot verloren geht.
Während das Oberthema Autismus lautet, haben Selbsthilfegruppen mitunter unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte, z.B. über eine der oben genannten Perspektiven, zu unterschiedlichen Kategorien im Spektrum (Asperger oder frühkindlicher Autismus) zu bestimmten Subthemen (Schule, Arbeit, Freizeit, Wohnen, Empowerment usw.) oder zu umgrenzten Altersbereichen.
Was also tun?
Selbsthilfe setzt Entwicklungen in Bewegung und ist immer eine Beteiligung wert. Sie ist keine Versorgungs-/Dienstleistungsstruktur, die mit Problemen gefüttert wird und direkt individuelle Lösungen anbietet. Die Errungenschaften sind in der Regel breit gestreut auf gesamtgesellschaftliche, nachhaltige Veränderungen.
Beispielsweise entstand über Eltern die Stiftung Irene und in Folge der Weidenhof als besondere Wohnform, zahlreiche Therapiezentren sowie weitere Angebote und Unterstützungsmöglichkeiten entwickelten sich vergleichbar. Freizeitgruppen gründeten sich über Regionalverbände und weitere selbstorganisierte Strukturen. Diese Liste lässt sich vielfältig weiterführen, dennoch sind die Angebote nicht ausreichend/flächendeckend. Die zahlreichen konstruktiven Beispiele zeigen, sich regional zu vernetzen und gemeinsame Angebote zu entwickeln lohnt sich -> Der Stammtisch von heute ist die Freizeitgruppe, individuelle Wohnform oder Beratungsstelle von morgen.
Mit uns direkt verknüpfte Selbsthilfegruppen und Angebote finden Sie über unsere Übersichtskarte.
Für eine breitere Suche empfiehlt sich das Portal NAKOS (Nationale Kontakt- und
Informationsstelle für Selbsthilfe). Dort lässt sich bundesweit nach den regionalen Selbsthilfe-Kontaktstellen (KISS, SEKIS, KIBIS) suchen. Diese listen Information zu Selbsthilfegruppen in der Umgebung zu allen Themen.
Literatur:
Publikationen im Bereich der Selbsthilfe/Ratgeber sind zu nahezu jedem Thema zahlreich, auch bei Autismus. Wie im ersten Absatz erwähnt, dienen sie eher dem Selbststudium, fokussieren auf die eigene Person/das direkte Umfeld. In (Selbsthilfe-) Gruppenkonstellationen können Sie durchaus als Strukturierung oder Gesprächsgrundlage dienen.
Beispiele wären:
Cox, Heidemarie & Cox, Alena (2024): Survival Guide Autismus: Erfolgreich durch den Alltag - ein Begleiter für Erwachsene im Autismus-Spektrum. Stuttgart, Kohlhammer.
Lipinski, Silke (2022²): Autismus: Das Selbsthilfebuch. Köln, Balance.
Notbohm, Ellen (2022 – Hrsg.: autismus Deutschland e.V.): 10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten. Freiburg, Lambertus.
Notbohm, Ellen & Zysk Veronica (2019 – Hrsg.: autismus Deutschland e.V.): 1001 Ideen für den Alltag mit autistischen Kindern und Jugendlichen. Praxistipps für Eltern, pädagogische und therapeutische Fachkräfte. Freiburg, Lambertus.
Mayer, Gwendolyn (2024): Abseits bekannter Pfade. Familienalltag mit einem autistischen Sohn. Erfahrungsbericht und Ratgeber. Karlsruhe, von Loeper.
Praxistipps für Eltern, pädagogische und therapeutische Fachkräfte. Freiburg, Lambertus.
Preißmann, Christine (20224): Asperger: Leben in zwei Welten. Betroffene berichten: Das hilft mir in Beruf, Partnerschaft & Alltag. Stuttgart, Trias.
Preißmann, Christine (2024³).: Mit Autismus leben: Eine Ermutigung. Stuttgart, Klett-Cotta.
[1] Eine aktuelle Veränderung der Selbsthilfekultur entwickelt sich in den letzten Jahren in der Erweiterung des Themas entlang der Begriffe Neudiversität/Neurodivergenz
[2] Zum Beispiel Temple Grandin, Christine Preissmann, Hajo Seng, Silke Lipinski, Lorna Wing, Olga Bogdashina u.v.m.
[3] Mit allen Vor- und Nachteilen